Prolog
Nach Luft schnappend renne ich auf die Bühne, um mich irgendwo zu verstecken. Ich sehe das Wachhäuschen der Soldaten, dessen Tür zum Publikum zeigt, und in dessen hinterem Teil sich ein Vorhang befindet, der das Licht der Hinterbühne abschirmt, wenn die Tür geöffnet ist. Dort renne ich hinein und schließe die Tür hinter mir.
Was zur Hölle mache ich? Ich fliehe vor einem Mörder, der mich fieberhaft auf der Seitenbühne sucht. Ist dies der Moment, wo mein Leben vor meinen Augen vorbeiziehen sollte? frage ich mich. Ich bin zu jung, um allzu viel Leben zu betrachten, also sollte ich besser einen Ausweg aus dieser Situation finden.
Ich setze mich auf den kleinen Hocker in der winzigen Hütte und lehne mich nach vorne, die Ellbogen auf die Knie gestützt und mein Kinn in den Händen, und schaukle hin und her. Auf der Hinterbühne höre ich jemanden bei der Suche nach mir Vorhänge zur Seite schieben und Stühle bewegen. Ich versuche flach zu atmen, damit ich mich nicht verrate.
Shit! Wie konnte ich in dieses Dilemma geraten? Wie konnte das geschehen? Er muss mich mit jemandem verwechseln. Nein, ich weiß, dass das nicht stimmt. Wie konnte ich mich so in dem Übeltäter täuschen? Ich habe einige Wochen Zeit verschwendet. Was, wenn er meiner besten Freundin etwas antut? Oder jemand anderen verletzt?
Das Orchester beginnt mit der Musik zum zweiten Akt der Oper Zauberflöte und schreckt mich aus meinen Gedanken, so dass ich auf meine Füße springe und erkenne, dass ich mich nicht länger im kleinen Soldatenwachhäuschen auf der Bühne verstecken kann. Der Solist wird jeden Augenblick auftreten und mein Versteck verraten. Was soll ich tun? Was soll ich tun? Denk nach! Denk nach!
Ängstlich schaue ich umher und wünschte, ich hätte etwas, womit ich mich selbst verteidigen könnte, aber leider gibt es bei meinem Bühnenkostüm, das aus einem glänzenden silberblauen Hosenanzug und einem weißen Herrenhemd mit einem kurzen Umhang besteht, keinerlei Waffe. Die George Washington-Perücke ist zu auffällig, und er weiß, dass ich in diesem Kostüm stecke. Ich trage 10 cm hohe, silberne Stöckelschuhe, für die man sterben könnte, aber das meine ich im übertragenen Sinne. Vielleicht kann ich einen davon ausziehen und ihm damit auf den Kopf schlagen. Lass die Belanglosigkeiten, Mädchen, denk nach!
Ich entscheide, dass Flucht sicherer ist als Kampf, greife den Priesterhut und Umhang, die an der Wand des Wachhäuschens für eine andere Szene bereithängen. Ich schleiche mich durch die Vordertür des Häuschens und stehe auf der Bühne vor dem Publikum.
Die Szene beginnt mit dem Marsch der Priester. Sie treten von links und rechts auf, lächelnd und sich begrüßend, um sich dann in einer diagonalen Reihe vor dem Isis-und-Osiris Schrein mit seinen zwei riesigen goldenen Götterstatuen auf der hinteren Bühne aufzustellen. Es gibt zwei hölzerne Wachhäuschen, auf jeder Seite des Schreins, aus denen die beiden Tenöre, die die Rolle der Sprecher spielen, auftreten. Sie singen diese Szene und stehen dann neben Sarastro während seiner Arie.
Wenn ich meinen Kopf nach unten halte, kann ich mich in den Männerchor einreihen, und es hilft ihm nicht weiter. Also los. Ich ziehe den Umhang an, um mein Kostüm zu verbergen, setze den Hut über die Perücke und trete auf die Bühne. Dort bleibe ich stehen und schüttle Hände, wie die Priester es tun. Bitte verratet mich nicht! flehen meine Augen, und ich schüttle meinen Kopf ein wenig, als Paul mich mit erhobenen Augenbrauen ansieht, während ich ihm die Hand gebe.
Sie singen den Isis und Osiris Chor, und ich habe nicht die leiseste Idee vom Text, also bewege ich nur meinen Mund und wende mein Gesicht vom Publikum ab. Während Sarastro singt, versuche ich, auf die Seitenbühne zu sehen, aber ich kann wegen des hellen Bühnenlichts nichts im Schatten erkennen. Dieser verdammte Hut ist zu groß für meinen Kopf, sogar über der Perücke, und ich muss ihn mit einer Hand festhalten, damit er mir nicht über die Augen rutscht. Ich seufze. Ich sehe, dass er an der Seite steht und den Vorhang mit seiner linken Hand festhält. In der rechten Hand hält er etwas, das bedrohlich aussieht. Rasch tauche ich unter meinem Hut und sehe Sarastro an. Er blickt mich mit weit aufgerissenen Augen an, weil ich ihm gerade seine wichtigste Szene vermassele. Was für ein Arschloch! Er ist ein aufgeblasener Depp, auch wenn er nicht auf der Bühne steht.
Und nun? Die Arie ist fast fertig, anschließend werden die Herren von der Bühne marschieren. Er kann mich greifen, wenn ich am Vorhang vorbei gehe. Ich beschließe, umzudrehen und auf der anderen Bühnenseite abzugehen. Das Publikum mag murmeln und brabbeln, wie lächerlich ich aussehe, und der Regisseur wird wütend sein, aber was soll’s? Mein Leben steht auf dem Spiel.
Ich renne zu den Aufzügen, aber er ergreift meinen Umhang. Schnell öffne ich ihn, und er hält ein leeres Kleidungsstück in der Hand. Ich renne den Korridor entlang.
Oh, hier gibt es kein Versteck! Was soll ich tun? Warum ist hier draußen niemand? Oh, sie stehen alle für ihren nächsten Bühnenauftritt bereit.
Rasch drehe ich um und laufe stolpernd auf den Tunnel zu. Schweigend, schreie ich innen.
Hilfe! Warum ist nie ein Polizist zur Stelle, wenn man ihn braucht? Oh, hilf mir Gott, er ist direkt hinter mir!